Bestsellerautor Ewald Arenz über seinen Beruf »Lehrer, die keine Fehler zugeben, sind die schlimmsten«

Ewald Arenz ist Schriftsteller und unterrichtet an einem Gymnasium in Nürnberg. Er wundert sich über gestresste Kollegen, den Leistungsdruck mancher Eltern – und hat in jeder Oberstufenklasse essgestörte Mädchen.

Ein SPIEGEL-Gespräch von Maik Großekathöfer und Katja Thimm

10.02.2023, 13.00 Uhr • aus DER SPIEGEL 7/2023

Der Studiendirektor Ewald Arenz ist vor 28 Jahren überhaupt nur Lehrer geworden, weil ihm dadurch ausreichend Zeit und Geld blieb, um Kurzgeschichten, Theaterstücke und Romane zu schreiben. So sagt er das. Inzwischen ist er Bestsellerautor, sein aktuelles Buch steht auf Platz zwei der SPIEGEL-Liste. Arenz, 57, unterrichtet Englisch und Geschichte und ist freier als viele seiner Kollegen und Kolleginnen, über den Alltag an einer Schule zu sprechen. Seine Bücher »Alte Sorten« und »Der große Sommer« erzählen auch davon, was er dort miterlebt: die Nöte von Jugendlichen, den Ärger mit Schulnoten, die erste Liebe, Essstörungen. Er führt durch das Nürnberger Johannes-Scharrer-Gymnasium, die Wände sind halbhoch in Hellblau gekachelt, die Treppenstufen abgelaufen, in einem Raum liegen Schriften der Bundeszentrale für politische Bildung in meterhohen Regalen, früher tagte hier die Fachschaft Geschichte. Ein beleuchteter roter Salzkristall. Ein Sofa. »Manchmal gehe ich hierhin, wenn ich mich kurz hinlegen will«, sagt Arenz.

SPIEGEL: Herr Arenz, würden Sie gern einen Schüler unterrichten, wie Sie einer waren?

Arenz: Wohl eher nicht. Ich habe mich in der Schule über weite Strecken nur für das Sozialleben interessiert. Ich war ein sehr schlechter Schüler und habe oft voller Angst im Unterricht gesessen. Ich habe die fünfte Klasse wiederholt, musste in der neunten Klasse in die Nachprüfung, in der zehnten Klasse bin ich in Englisch, Mathe, Französisch, Latein und Physik durchgefallen. Ich war aufsässig, ich habe eine ganze Reihe von Verweisen mit nach Hause gebracht. Gleichzeitig war ich der Meinung, dass ich ein Genie bin.

SPIEGEL: Wie kamen Sie denn darauf?

Arenz: Ich habe Deutsch als Leistungskurs gewählt, weil ich als Schriftsteller oder Schauspieler groß herauskommen wollte. Ich gehörte zu einer Clique, wir verstanden uns als elitärer Kreis. Alles sehr existenzialistisch. Und wahnsinnig überheblich. Voller Verachtung für die Schule und die Lehrer.

SPIEGEL: Das war damals ziemlich verbreitet: Jugendliche zündeten Räucherstäbchen an, tranken Tee aus handgetöpferten Bechern und diskutierten über Bücher, die sie nicht richtig verstanden.

Arenz: Keine Räucherstäbchen bei uns! Aber ja, wir haben ziemlich planlos in den Sartre reingeguckt, in Marx und Engels, alles wild durcheinander. Wir wollten provozieren, aber viele unserer Lehrer kamen aus der 68er-Generation. Die ließen sich nicht provozieren.

SPIEGEL: Würden Sie lieber heute zur Schule gehen?

Arenz: Manches wäre einfacher. Man kümmert sich mehr um die Kinder als früher. Wir denken darüber nach, wie sich Leistungsrückstände oder auffälliges Verhalten erklären lassen. Gibt es Probleme in der Familie? Einen bildungsfernen Hintergrund? Fluchterfahrungen? Auch die Strukturen sind besser, selbst wenn die mangelnde Durchlässigkeit im Bildungssystem oft kritisiert wird. Es gibt heute trotzdem mehr Wege, auch Umwege, zum Abitur.

 

SPIEGEL: Ist der Lehrerberuf dadurch schwieriger geworden?

Arenz: Auch wenn ich mich bei Kolleginnen und Kollegen unbeliebt mache: Ich finde nicht. Man arbeitet in einem gut bezahlten Job, der einem viel freie Zeit lässt, wenn man sich organisieren kann. Ich habe erst ein paar Semester Jura studiert, dann amerikanische Literatur und neuere Geschichte, und als ich meinen Magister machte, hatte ich bereits zwei Kinder. Ich war dann beim Arbeitsamt, und der Berater meinte: Von Magistern wie Ihnen haben wir schon viele umgeschult, zum Beispiel zu Schreinern. Ich hatte vorher bei einem Möbelrestaurator gearbeitet, da war ich immer zu müde, um zu schreiben, wenn ich nach Hause kam. Meine Frau riet mir, Lehrer zu werden. Das bin ich ohne Abstriche noch immer gern. Ich unterrichte 16 Stunden in der Woche, habe die Fachleitung für Englisch, und an den Wochenenden und schulfreien Tagen schreibe ich vier bis fünf Stunden lang an meinen Büchern. Ich freue mich jeden Sommer nach den Ferien, zurück in die Schule zu kommen und neue junge Leute kennenzulernen.

SPIEGEL: Viele Lehrer sind Burn-out-gefährdet. Sie haben zwei Berufe. Fühlen Sie sich nie am Ende Ihrer Kraft?

Arenz: Als ich 18 Jahre alt war, lag ich viele Monate lang auf der Intensivstation. Dann bin ich bin sehr früh, mit 23, Vater geworden. Mein Bruder ist an Krebs gestorben, und im selben Jahr hat sich eine Schülerin umgebracht. Es mag überheblich klingen: Lehrer zu sein ist für mich ein Job und nicht das, was im Leben wirklich zählt. Viele Probleme, die sich Kollegen machen, sind keine Probleme.

SPIEGEL: Immerhin lässt die Sorge vor Überlastung jede Menge Menschen vor dem Lehrerberuf zurückschrecken.

Arenz: Sicher ist der Job härter, wenn man nicht am Gymnasium unterrichtet. Ich habe eine Zeit lang an einer Mittelschule gearbeitet, weil ich wissen wollte, wie das ist. Aber ich bleibe dabei: Für das Gefühl von Überlastung sind viele selbst verantwortlich. Ich habe mal mit einer Kollegin Abiturklausuren korrigiert, als ich 18 Arbeiten fertig hatte, war sie noch bei der dritten. Sie stand unter einem unglaublichen Stress, bloß keine Fehler zu machen. Ich habe ihr gesagt, dass sie sich kaputtmacht, wenn sie so korrigiert. Die Kollegin ist vor einem Jahr frühpensioniert worden, mit 48 Jahren.

SPIEGEL: Spüren Sie bei Ihrer Arbeit den Lehrermangel?

Arenz: Wenn wir wirklich Erfolg haben wollen beim Unterrichten, dann müssten wir alle Klassen halbieren. Ich sehe das in der Oberstufe, in den Leistungskursen: Wenn man mit 14 Schülerinnen und Schülern arbeitet, dann hat man jede und jeden im Blick. Dann wird daraus eine Lerngruppe, in der so viel Energie entsteht, dass alle mitziehen.

SPIEGEL: Experten der Kultusministerkonferenz haben gerade größere Klassen empfohlen. Und weitere Vorschläge gegen den Lehrermangel gemacht: weniger Teilzeit, weniger Verwaltung und mehr Stunden im Klassenraum. Wie finden Sie das?

Arenz: Da kann ich nur sagen: Die Freude ist groß. Es wäre schön, wenn ich kein Geld für Fotokopien und keine Zettelabschnitte mit Elternunterschriften mehr einsammeln müsste. Als Klassenlehrer verliert man damit in jedem Jahr etwa zehn Unterrichtsstunden, digital ließe sich so etwas einfacher regeln. Vor ein paar Jahren sollten wir hier in Nürnberg eine Zeit lang eine Stunde mehr pro Woche unterrichten. Das ist alles machbar, aber die Erfahrung hat gezeigt, dass dann auch der Krankenstand steigt. Und weil darüber im Moment viel diskutiert wird: Ich kann mir vorstellen, auch als Pensionär noch zu unterrichten.

SPIEGEL: Viele Lehrerinnen und Lehrer kämpfen mit den neuen digitalen Unterrichtsmethoden.

Arenz: Der Kern der Wissensvermittlung ändert sich dadurch nicht – Lehrer müssen Offenheit für neuen Stoff erzeugen. Sie müssen vermitteln, dass man Englischvokabeln lernt, weil es Spaß macht, sich fast überall auf der Welt verständigen zu können. Dafür ist das digitale Material ein Traum: Ich kann mein iPad an einen Beamer anschließen und englische Filmausschnitte auf YouTube zeigen. Ein Kfz-Mechatroniker muss sich mehr fortbilden als ein Lehrer. Und wir jammern, wenn wir irgendetwas digital eintragen müssen.

SPIEGEL: Es gibt nichts, das Sie stört?

Arenz: Mit WhatsApp-Nachrichten von meinen Schülern habe ich öfter zu tun, als mir lieb ist. Es ist kein Einzelfall, dass mich noch samstags um Mitternacht eine Nachricht erreicht, und wenn ich bis Sonntagmorgen um acht nicht geantwortet habe, bekomme ich die nächste. Die besteht dann nur aus einem Fragezeichen.

SPIEGEL: Was wollen die Schüler von Ihnen?

Arenz: Sie stellen Fragen wie: Haben Sie die Präsentation schon hochgeladen? Haben wir nun eigentlich Hausaufgaben auf? Am Anfang habe ich alles beantwortet, das habe ich mir abgewöhnt. Aber dass manche Lehrer und Lehrerinnen ihren Schülern am Wochenende Nachrichten und Mails schicken, gehört sich genauso wenig.

SPIEGEL: Gibt es andere Entwicklungen, die Ihre Arbeit schwieriger gemacht haben?

Arenz: Die psychischen Probleme von Jugendlichen sind viel offensichtlicher. In jeder zehnten und elften Klasse habe ich mindestens ein essgestörtes Mädchen. Und wir sind nicht dafür ausgebildet, diesen Kindern zu helfen, es gelingt vielleicht in einem von zehn Fällen. Angststörungen haben zugenommen, besonders seit Beginn der Pandemie. Viele Schülerinnen und Schüler können sich nicht mehr nach vorn stellen und ein Referat halten, in manchen Klassen betrifft das ein Drittel der Kinder. Sie bekommen Panikattacken, sie übergeben sich. Auch neu ist die zunehmende Zahl non-binärer Kinder. Man muss als Lehrer vorsichtiger auftreten als früher. Allerdings ist das nicht so mein Ding. Ich schreie auch rum.

SPIEGEL: Ein Beispiel bitte.

Arenz: Wenn jemand jammert, weil er 11 statt 13 Punkte hat, habe ich wenig Mitleid. Und ich finde, dass es Kinder eher entspannt, wenn sie nicht ständig darin bestärkt werden, alles Mögliche furchtbar und gemein zu finden. Wenn ich richtige Not sehe, reagiere ich natürlich anders. Aber es passiert leider auch, dass ich die nicht mitbekomme. In meinem Unterricht hat niemand eine Kappe oder Kapuze auf, darauf bestehe ich. Und ich habe mal einen Jungen, der seine Mütze nicht absetzen wollte, ziemlich angeraunzt. Als er sie schließlich vom Kopf nahm, sah ich, dass er wohl eine Chemotherapie gemacht hatte. Ich dachte: oh, Scheiße.

SPIEGEL: Und dann?

Arenz: Ich habe mich entschuldigt. Lehrer, die keine Fehler zugeben, sind die schlimmsten.

Arenz zeigt einen Klassenraum, in dem er oft unterrichtet. Hohe Fenster, blaue Vorhänge, abgewetztes Parkett. Auf einem Tisch hinten im Raum steht die Bücherkiste einer neunten Klasse. Eine Kurzgeschichte von Arenz wird in vielen Schulen im Deutschunterricht gelesen. Es geht darin um einen Vater, der mitten in der Nacht nach Hause kommt und die Tür mit seinem Schlüssel nicht öffnen kann. Bei Arenz meldete sich vor einiger Zeit eine Mutter, deren Sohn für seine Interpretation eine Fünf bekommen hatte. Sie wollte wissen, wie der Autor, also Arenz, den Text gemeint habe. »Eigentlich verstehe ich ihn genauso wie der Schüler. Aber da kann man als Verfasser nichts machen, wenn die Musterlösung etwas anderes vorsieht. Der Lehrer besitzt die Deutungshoheit.«

SPIEGEL: Das bayerische Abitur gilt als besonders anspruchsvoll. Haben Sie manchmal Mitleid mit den Schülern und Schülerinnen?

Arenz: Mitleid habe ich, weil sie viel zu wenig Sportunterricht haben, zwei Stunden in der Woche. Vor ein paar Generationen sind die Menschen in Deutschland durchschnittlich 20 Kilometer am Tag zu Fuß gegangen. Heute sind es manchmal nur 800 Meter. Ich würde die Schule täglich mit einer Stunde Sport beginnen. Wir haben Kinder, die hocken hier zehn Stunden auf dem Stuhl und gehen zwischendurch nur mal schnell einen Döner holen. In einem Gefängnis wäre das nicht in Ordnung.

SPIEGEL: Viele Schüler und Schülerinnen berichten von Kopfschmerzen oder Bauchweh, weil sie Angst hätten, in der Schule zu scheitern.

Arenz beim SPIEGEL-Gespräch: »Meine Erfahrung ist, dass in Familien mit Migrationshintergrund oft ein höherer Leistungsdruck herrscht«

Arenz: Ein Drittel steht unter enormem Leistungsdruck. Der geht aber nicht von der Schule aus, sondern von den Eltern. Ein realistischer Blick auf die Möglichkeiten mancher Kinder wäre sicher hilfreich. Das weiß ich aus eigener Erfahrung: Meine eigenen Kinder waren alle mittelbegabt und mittelfaul.

SPIEGEL: Erzählen Sie.

Arenz: Mein Jüngster ist von der Realschule auf dieses Gymnasium hier gewechselt und jetzt in der zwölften Klasse. Meine Tochter hat das Abitur zwar auf Anhieb, aber mit Ach und Krach geschafft. Und mein Ältester hat mich noch übertroffen und ist dreimal sitzen geblieben. Ich war so wütend, aber wir haben dann einen Deal ausgehandelt: Er musste die zehnte Klasse im Internat in Würzburg wiederholen und durfte erst wiederkommen, als er gut genug war. Aber als er zurück war und in der Jahrgangsstufe elf erst einmal gute Noten auf dem Halbjahreszeugnis hatte, ging alles von vorn los: Ich lerne doch nicht schon zwei Wochen vor der Arbeit für Physik! Er hat es dann geschafft, mit zwei Fünfen die Schule verlassen zu müssen.

SPIEGEL: Und dann?

Arenz: Er hat sein Fachabitur gemacht, war bei der Bundeswehr und wollte anschließend mit 23 das Abitur nachholen, als externer Bewerber an einem öffentlichen Gymnasium. Das schaffen die wenigsten. Er ist wieder bei uns eingezogen und hat morgens bis zehn oder elf Uhr geschlafen. Dann der nächste Deal: Du sitzt um acht Uhr am Schreibtisch und lernst, sonst fliegst du raus. Er hat zugestimmt. Ich habe bei keiner Prüfung so gezittert wie bei seinem Abitur. Und ich dachte immer, ich könnte wegen meiner eigenen Schulkarriere die Kinder ganz entspannt begleiten. Er hat es dann aber geschafft.

SPIEGEL: Welche Abiturnote hatten Sie denn?

Arenz: War am Ende ganz okay: 2,5.

SPIEGEL: Wie erleben Sie die Eltern Ihrer Schüler?

Arenz: Ich unterrichte fast nur in der Oberstufe, da begegnet man nicht vielen Eltern. Meine Erfahrung auf dem Gymnasium ist, dass in Familien mit Migrationshintergrund oft ein höherer Leistungsdruck herrscht. Die Kinder sind leistungsbereiter als andere, weil sie ihre Eltern auf keinen Fall enttäuschen wollen. Für sie bedeutet Bildung den gesellschaftlichen Aufstieg.

SPIEGEL: Was raten Sie Eltern, die sich um die schulische Karriere ihrer Kinder sorgen?

Arenz: Wenn ich mich und meine Kinder anschaue: Was kann ich da raten? Ich hatte schwache Schüler, die erfolgreiche Juristen geworden sind. Und solche mit allerbesten Anlagen, die in der neunten Klasse an Drogen gerieten und abgestürzt sind. Die große Mehrzahl findet einen Weg ins Leben. Ich würde sagen: Liebe Eltern, bleiben Sie anspruchsvoll, sonst werden Ihre Kinder faul. Überlegen Sie, was sie fördern können und wo Sie fordern müssen. Akzeptieren Sie, wenn Ihr Kind auf dem Gymnasium nicht gut aufgehoben ist, man kann auch ohne Abitur ein befriedigendes Leben führen. Aber vor allem: Bleiben Sie zugewandt. Und schärfen Sie den Blick auf Ihr Kind.

SPIEGEL: Wie meinen Sie das?

Arenz: Ich hatte mal einen Jungen, da meinten die Eltern, er sei schrecklich faul. Tatsächlich war er hochkreativ, er interessierte sich nur nicht für den Schulstoff. Er war ein produktiver Sprayer, seine Graffiti waren großartig. Seine schöpferische Intelligenz wertzuschätzen, statt das Sprühen als unnützen Kram zu verurteilen, hat den Eltern geholfen. Sie konnten sich sagen: Auch wenn die Noten im Moment schlecht sind, hat unser Sohn Talente und geht nicht verloren.

SPIEGEL: Was machen Sie mit unglücklichen Schülern, die Sie nicht erreichen?

Arenz: Natürlich versuchen wir, Schulpsychologen und Eltern einzubinden. Aber ich hatte schon magersüchtige Mädchen in der Klasse, die immer weniger wurden und schließlich ganz verschwunden sind. Sie wurden in Kliniken eingeliefert und kamen nicht wieder. Ich musste lernen, dass Lehrern Grenzen gesetzt sind. Während meines Referendariats hat sich ein Sechstklässler in den Treppenschacht der Schule gestürzt. Das Kind hatte sich den Schädel aufgeschlagen und lag in einer Blutlache, ich habe es beatmet, aber es war tot. Und ich hatte eine depressive Schülerin, eine 18-Jährige, sie lebte allein. Ich wollte unbedingt, dass sie zu einem Psychiater geht, aber sie wollte nicht, und in den Sommerferien hat sie sich das Leben genommen. Man sieht ein Kind, das Hilfe braucht. Aber man kann ihm nur bis zu einem gewissen Punkt helfen. Bei manchen Kindern sieht man die Not auch nicht. Wer Kinder hat, weiß, dass man sogar die eigenen Kinder nicht immer erreicht.

SPIEGEL: Haben Sie diese Erfahrung gemacht?

Arenz: Ich habe phasenweise den Kontakt zu meiner Tochter verloren. Sie hat sich geritzt, und ich habe erst zwei Jahre später davon erfahren. Ich habe immer gedacht, ich bin ein guter Vater. Dass wir ihr alle Möglichkeiten bieten. Und dann stellt man fest: Oh, das war nicht so.

Arenz‘ Handy vibriert, zum dritten Mal innerhalb von fünf Minuten. Er zieht das Telefon aus der Hosentasche seines Tweedanzugs und nimmt ab. Sein jüngster Sohn, die beiden wollen später gemeinsam nach Hause fahren. Arenz holt ihn in den Raum, er hört dem weiteren Verlauf des Gesprächs zu.

SPIEGEL: Hat Sie ein Schüler oder eine Schülerin schon einmal heftig beschimpft?

Arenz: Niemals. Obwohl, halt! Ein Schüler hat mir im Vorbeigehen auf dem Flur einmal gesagt, ich sei ein Arschloch. Er war ein Hardcore-Nazi, und wir waren uns spinnefeind. Er hasste mich, und ich konnte ihn nicht leiden. Er war schlecht in Englisch, und ich habe genau darauf geachtet, dass er keine bessere Note bekam, als er verdient hatte. Er musste unter anderem deswegen die Schule verlassen. Andere Schüler können mich nicht leiden, weil sie mich arrogant finden.

SPIEGEL: Auch wenn Sie einen Schüler oder eine Schülerin nicht mögen, müssen sie die Leistung objektiv beurteilen. Wie kompliziert ist das?

Arenz: Man muss sich sehr genau beobachten. Und man ertappt sich bei dem Gedanken, dass man einfach etwas besser benoten könnte, um den Eindruck zu vermeiden, man sei parteiisch. Wenn es nicht anders geht, gehe ich mit einer Arbeit zu einem Kollegen oder einer Kollegin und bitte um deren Meinung.

SPIEGEL: Wie schwierig ist es, junge Menschen für klassische Literatur zu begeistern?

Arenz: Junge Leute fürs Lesen allgemein zu begeistern, ist wahnsinnig schwer geworden. Ich habe Lesen immer geliebt, weil es ein Weg war, in andere Welten einzutauchen. Da gibt es heute digital natürlich andere Möglichkeiten, Chatrooms, Computerspiele. Aber es bleibt dabei, dass man sich das Universum erschließen kann, wenn man liest. Vorlesen ist ein Schlüssel, man kann auch noch Schülern der Mittelstufe oder Oberstufe vorlesen. Wenn ich in einer zwölften Klasse frage, wer schon mehr als zehn Bücher gelesen hat, geht die Hälfte der Hände hoch. Frage ich nach 50 Büchern, sind es noch drei oder vier Hände.

SPIEGEL: Wenn in der Oberstufe Shakespeare auf dem Lehrplan steht: Googeln Ihre Schüler und Schülerinnen die Inhaltsangabe oder lesen die den Text?

Arenz: Laut Lehrplan sollen sie Auszüge aus einem Drama lesen, was ich ihnen verbiete. Sie müssen den gesamten Text lesen. Sie sind in der gymnasialen Oberstufe, ich finde, das gehört sich so. Das mag wie eine kulturelle Überheblichkeit wirken, aber irgendwann verstehen sie, wie cool Literatur sein kann: Was für eine unglaubliche Wirkung ein gut gemachter Text haben kann. Und das macht vielen dann schon Spaß. Aber die schwierigen Fälle kriege ich damit nicht, die charakterisieren nach ein paar Klicks im Netz jede Figur der Weltliteratur.

SPIEGEL: Die heutigen Abiturienten leben in einer Zeit, die von Pandemiefolgen, Inflation und dem Krieg in Europa geprägt ist. Mit welchen Gefühlen entlassen Sie die jungen Erwachsenen aus der Schule?

Arenz: Ich bin nach wie vor eher optimistisch. Ich freue mich mit ihnen, dass sie die Schule geschafft haben. Sie sollen offen in die Zukunft ziehen. Angst haben sie schon genug. Ich habe so viele düstere Ratschläge bekommen, als ich jung war: Es gibt 50.000 neue Bücher in jedem Jahr – glaubst du, irgendwer will ausgerechnet deins lesen? Man muss als junger Mensch bei allem Realitätssinn zwischendurch Scheuklappen anlegen. Sich sagen: Ich behaupte mich in der Welt. Ich versuche, meinen eigenen Weg zu finden. Die jungen Leute sollen sich umsehen. Das Feuer der Jugend darf man nicht löschen.

SPIEGEL: Herr Arenz, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Der Sohn, der im Hintergrund zuhört hat, lacht leise. »Als Vater spricht er anders«, sagt er, während Arenz seinen Mantel und Hut aus der Lehrergarderobe holt. Der Junge erzählt, er liste jedes Buch auf, das er gelesen habe, so sei es bei ihnen zu Hause üblich. Die Bestseller, die den Vater berühmt gemacht haben, kenne er nicht. Einmal sei er bei einer Lesung gewesen, das reiche ihm. »Ich interessiere mich eher für Fantasy-Romane«, sagt er. Arenz legt dem Sohn die Hand auf den Arm, dann schultern die beiden ihre Rucksäcke.