erschienen der „Presse“
Der Dreißigjährige Krieg um die Begriffe Leistung und Gerechtigkeit überlagert die Schuldiskussion in Österreich und erstickt jeden ernsthaften Reformversuch im Keim. Wie in allen Religionskriegen sind objektive Fakten irrelevant und die Standpunkte der Lager unverrückbar. Das Schulwesen der 2. Republik ist unabhängig von der jeweiligen Regierungskonstellation fest in roten und schwarzen Händen, daher spielen die Positionen der anderen Parteien nur eine untergeordnete Rolle.
Fangen wir mit der Partei an, deren Abgeordneter ich viele Jahre war, und deren einfaches Mitglied ich nach wie vor bin – der ÖVP.
Nun zur SPÖ:
Abweichende Meinungen innerhalb der SPÖ und der ÖVP vom jeweiligen Dogma werden als Ketzerei geahndet. Die Tatsache, dass es Schulsysteme wie in Skandinavien oder Kanada gibt, in denen Leistungsorientierung und Gerechtigkeit keine Widersprüche sind, wird hartnäckig ignoriert. Die verheerenden Folgen dieser ideologischen Selbstfesselung sind, dass unser Schulsystem heute leistungsfeindlich u n d sozial diskriminierend ist.
Die Fakten
Fazit: Wer über mehr Bildung verfügt, wird seltener gekündigt, verdient mehr und zahlt daher höhere Steuern, ist in geringer Gefahr, kriminell zu werden, wird seltener krank und lebt deutlich länger. Diesen Bildungsreichtum vererbt er mit hoher Wahrscheinlichkeit an seine Kinder. So einfach ist das. Trotzdem leugnet die Politik in Österreich diese eindeutigen Zusammenhänge und versucht den Absturz unseres Bildungssystems schönzureden. Die Sozial- und Gesundheitskosten werden explodieren, weil man jeden fünften jungen Menschen in den neun Jahren Schule völlig vernachlässigt, um ihn danach 60 Jahre erhalten zu müssen. Das ist ziemlich dumm.
Warum alle Ideologen echte Chancengerechtigkeit fürchten
Chancengleichheit in einer Gesellschaft halte ich für eine Illusion, weil Kinder aus funktionierenden, gebildeten Familien immer einen Startvorteil haben werden. Das erreichbare Ziel, das sich ein Schulsystem setzen kann, lautet Chancengerechtigkeit.
Dafür würde es reichen ein Prinzip in unserer Verfassung zu verankern und es damit von jedem Bürger einklagbar zu machen: Jedes Kind hat ein Recht darauf, dass seine Talente in der Schule maximal gefördert werden.
Dem werden wahrscheinlich die meisten Menschen zustimmen. Konsequent durchgedacht würde sich aber schnell zeigen, dass dieser Anspruch mit beiden zuvor geschilderten ideologischen Positionen unvereinbar ist.
1. Je gezielter die individuellen Talente von Kindern gefördert werden, umso größer werden die Unterschiede. Echte Chancengerechtigkeit würde Kinder nicht wie bisher an ein schulisches Mittelmaß anpassen sondern zu weniger Nivellierung der Leistungen führen. Das wird alle jene, die sich von Schule aus ideologischen Gründen mehr Gleichheit wünschen, wenig freuen.
2. Chancengerechtigkeit hieße aber auch alle Schüler systematisch in ihren Talenten unabhängig von ihrem Wohnort und ihrer Herkunft zu erfassen. Das wäre gerecht aber ein völliger Bruch mit der bisherigen Tradition. Derzeit werden Kinder mit zehn Jahren in solche getrennt, die es „im Kopferl“ haben, und solche, die es „im Ärmel“ haben. Interessanterweise haben es 80 Prozent der Schüler in Wien-Hietzing „im Kopferl“ und 90 Prozent der Schüler in den ländlichen Gebieten von Tirol „im Ärmel“. Ohne sich dessen bewusst zu sein, schicken Eltern im bürgerlichen Hietzing ihre Kinder in eine nicht leistungsdifferenzierte Gesamtschule. Ein Drittel der Schüler langweilt sich, weil sie unterfordert sind, und ein Drittel kämpft ständig mit dem Überleben, weil sie überfordert sind. Umgekehrt hat ein Kind in Tirol, wenn es in einem Gegenstand in der dritten Klasse (!) Volksschule ein „Befriedigend“ hat, keine Chance, später an eine AHS zu kommen. Das führt dazu, dass Eltern der betroffenen Kinder dem Systemwahnsinn gehorchend fordern, dass ihre Kinder die dritte Klasse wiederholen dürfen, obwohl sie eindeutig positiv abgeschlossen haben.
In Singapur müssen alle Kinder nach sechs Jahren Grundschule einen national einheitlichen Test absolvieren, dessen Ergebnis nicht nur über die zukünftige Schulkarriere, sondern meist auch die berufliche Zukunft entscheidet. Dieser PSLE (Primary School Learning Examination) geht über drei Tage und testet hauptsächlich die mathematischen–logischen Fähigkeiten. Würden die Talente von Kindern in Österreich so erfasst werden, wäre es in vielen konservativen Elternhäusern mit der Begeisterung für ein selektives leistungsorientiertes Schulsystem schnell vorbei.
Österreichs Wohlstand hängt von unserem öffentlichen Schulsystem ab – mit oder ohne Euro
Derzeit laufen zwei wichtige Diskussionen parallel nebeneinander, als ob sie nichts miteinander zu tun hätten: die Finanzkrise und die Bildungskrise. Diese sind aber durch das einfache Gesetz von Ursache und Wirkung untrennbar miteinander verbunden. Unser Bildungsniveau ist maßgebend für die Wettbewerbsfähigkeit und diese bestimmt langfristig unseren Wohlstand, unabhängig davon, ob es den Euro nächstes Jahr noch gibt. Wenn wir heute eine Schule oder eine Universität im Stich lassen, ist das für unsere Zukunft weit schlimmer, als eine Bank aufzugeben. Die eigentliche Katastrophe besteht darin, dass über das wichtigste Kapital Österreichs kein Schutzschirm gespannt wird.
Es ist daher die heilige Pflicht von uns allen, den Druck auf die politischen Parteien zu erhöhen, damit unsere Schulen nicht weiter ein Exerzierfeld für ideologische Verkrampfungen der Parteien, engstirnige Lehrergewerkschaftsinteressen, übersteigerten Föderalismus und existenzbedrohende Einsparungsfantasien bleiben. Alle aufgezeigten Gruppen verfügen über starke Lobbys. Dabei sollte unser Schulsystem ausschließlich dem Gemeinwohl dienen, um sicherzustellen, dass Eltern ihre Kinder guten Gewissens in jede öffentliche Schule schicken können. Das Gemeinwohl hat in Österreich aber keine Lobby. Daher schaut unser Schulsystem so aus, wie es ist. Wir alle sind dafür verantwortlich.
Das Wissen, wie eine Schule aussehen müsste, die sich an den individuellen Bedürfnissen der Schüler orientiert, ist bekannt. Die guten Schulen basieren auf bestimmten Prinzipien:
Wenn wir so genau wissen, wie gute Schulen funktionieren, warum schaffen wir diese dann nicht für alle Kinder?
Die Antwort, auf die ich nach unzähligen Diskussionen mit den Verantwortlichen gekommen bin, ist banal und tragisch: Sie wollen das Offensichtliche nicht sehen, weil sie Angst vor dem Widerstand gegen das Neue haben. Sie klammern sich wider besseres Wissen am Alten fest. Sie orientieren sich nicht an den Reformern, sondern an den Bremsern. In der Wirtschaft gibt es den Spruch „Nicht die Großen fressen die Kleinen, sondern die Schnellen die Langsamen“. In der Schule herrschen die Langsamen über die Schnellen. Und da sich die Langsamen in der Schule überhaupt nicht bewegen, wird der Stillstand zur dominierenden Bewegungsart.
Wenn nicht eine grundlegende Reform gelingt, dann wird sich der Abstieg unseres öffentlichen Schulsystems fortsetzen. Jeder, der es sich irgendwie leisten kann, wird sein Kind in eine Privatschule geben. Im öffentlichen Schulsystem werden die Kinder der bildungsfernen Schichten übrig bleiben. Ich bin sehr für Privatschulen, weil sie den Eltern mehr Wahlmöglichkeiten bieten und den Veränderungsdruck erhöhen. Aber die Zukunft für ein kleines Land wie Österreich mit seinen 1,2 Millionen Schülern kann nur in einem öffentlichen Schulsystem liegen, das die Talente seiner Kinder fördert und nicht systematisch zerstört, nur weil jedes Vierte davon in die „falsche“ Familie am „falschen“ Ort geboren wurde. Wohin ein Raub der Bildungschancen und eine Erziehung zur Mutlosigkeit führen, zeigen die Beispiele von Griechenland und Spanien. Unvorstellbare 50 Prozent der jungen Menschen sind dort arbeitslos.
Das erste Land der Welt, das es schafft, die sozialen und kreativen Kompetenzen seiner Schüler genauso gut zu erfassen und zu fördern wie die kognitiven Fähigkeiten, wird das beste Schulsystem der Zukunft kreieren. Österreich hätte theoretisch die besten Voraussetzungen für einen derartigen Entwicklungssprung. Das öffentliche Bewusstsein ist mehr als bereit für eine große Bildungsreform, und wir sind nach wie vor eines der reichsten Länder der Welt. Wenn wir keinen nationalen Konsens schaffen, werden wir uns alle in zehn Jahren fragen lassen müssen, warum wir nichts gegen den dramatischen Einbruch unseres Bildungssystems getan haben, obwohl die Fakten völlig eindeutig waren. Und wir werden dann sicher nicht mehr zu den reichsten Ländern der Welt gehören.