Die ersten 100 Tage

Wie sich die nächste Regierung zusammensetzen und wer das Bildungsministerium
leiten wird, ist völlig unsicher. Die Herausforderungen, vor denen unser Schulsystem
steht, sind dagegen fix. Welche Weichenstellungen ein neuer Bildungsminister bzw.
eine Bildungsministerin in den ersten 100 Tagen schaffen muss, formuliert „trend“-
Autor Andreas Salcher.1

In der These „Was ein Minister in seinen ersten 100 Tagen nicht durchsetzt, scheitert meist
im Rest seiner Amtszeit“ steckt, bei aller Zuspitzung, eine politische Weisheit. An
Dringlichkeit mangelt es nicht. In der politischen Debatte hört man immer wieder: „Wir dürfen
nicht bei den Ärmsten der Armen sparen.“ Das ist falsch. Wir dürfen nicht nur nicht an ihnen
sparen, wir müssen in sie investieren, in ihre Bildung, ihre Lebenschancen, damit sie
möglichst schnell selbstbestimmt leben können. Wenn jeder fünfte Fünfzehnjährige nach
neun Jahren Schule nicht sinnerfassend lesen kann, dann ist eine wirtschaftliche und noch
viel mehr eine humanistische Katastrophe.

Dabei sind wir (noch) ein wohlhabendes Land mit vielen Talenten. Um das auch für die
Zukunft zu sichern, ist Bildung der größte Hebel, den wir haben. Damit wir in der Champions League der Bildungsnationen mitspielen können, muss die neue Regierung Bildung zu einer
der drei nationalen Top-Prioritäten machen. Denn funktioniert haben grundlegende
Bildungsreformen vor allem dann, wenn diese massiv von der Regierungsspitze initiiert und
gegen alle Widerstände durchgesetzt wurden, wie die Bildungsreformen in Kanada,
Singapur, Finnland, Estland, Neuseeland oder die umfassende Reform der Londoner
Schulen beweisen. Das kann in Österreich kein Bildungsminister allein schaffen, da ist der
Bundeskanzler selbst gefordert. Er muss in den ersten 100 Tagen verbindlich folgende
Weichen stellen – dann könnte er sich vor öffentlicher Zustimmung kaum retten:

Die besten Kindergärten der Welt

Die Bildungs- und Gehirnforscher sind sich einig darüber, dass die Investition in kompetente
frühkindliche Pädagogik jene Maßnahme ist, die den maximalen langfristigen Bildungsnutzen
bringt. Das Fördern von Neugier und Lernfreude, das Lernen von sozialen Regeln,
Konfliktfähigkeit, Sprachkompetenz und vieles mehr lassen sich in den Kindergärten mit
einem geringen Aufwand wesentlich positiv beeinflussen. Elementarpädagogik gehört zu den
wichtigsten Berufen für die Zukunft unseres Landes und verlangt nach einer entsprechenden
Aufwertung. Das bedeutet, dass die Elementarpädagoginnen nach einer den Lehrern
vergleichbaren hochwertigen Ausbildung so wie diese bezahlt werden. In Kanada verdienen
die Elementarpädagoginnen gleich viel wie die Lehrer, mit dem Ergebnis, dass die Kinder der
Migranten nach Abschluss der Schulzeit teilweise besser Englisch sprechen als die in
Kanada geborenen Schüler. Wenn wir einen nationalen Konsens darüber erreichen, die
besten Kindergärten zu schaffen, dann hätten wir in zehn Jahren eines der besten
Schulsysteme der Welt.

Echte Ganztagsschulen flächendeckend einführen

Fast alle guten Schulen auf der Welt sind echte Ganztagsschulen. Das trifft auf die teuersten
Privatschulen in Großbritannien und den USA genauso zu wie auf soziale
Brennpunktschulen. Die Vorteile sind eindeutig: Die Zeiteinteilung zwischen klassischem
Lehrvortrag, echtem Projektunterricht, Reisen und Exkursionen, selbstbestimmtem Lernen
sowie Erholungs-, Essens- und Reflexionszeiten wird vom Lehrerteam in Absprache mit dem
Direktor autonom festgelegt. Dadurch wird individuelles Eingehen auf jeden Schüler
strukturell überhaupt erst möglich. Die Hausaufgaben fallen zum Großteil weg und für
Schüler, Lehrer u n d Eltern endet die Schule im Normalfall um 16.00 Uhr. Unser
Schulsystem ist mit Ausnahme von Wien ein ausgeprägtes Halbtagsschulsystem, wobei
wenn überhaupt Nachmittagsbetreuung durch Freizeitpädagogen angeboten wird. Alle, die
jetzt mit dem Elternwahlrecht argumentieren, seien daran erinnert, dass die echte
verschränkte Form der Ganztagsschule mit deutlich weniger als zehn Prozent nach wie vor
ein absolutes Minderheitenprogramm in Österreich ist. Während Bildungseltern, meist die
Mütter, schon ab der Volksschule am Nachmittag mit ihren Kindern lernen, private Nachhilfe
und im Sommer Sprach- und Lernferien organisieren, können die Bildungsfernen das nicht
leisten und die Kluft zwischen den Bildungsschichten wird dadurch immer größer.

Schulen erhalten die volle pädagogische Autonomie

Das Schulautonomiepaket 2017 war ein Schritt in die richtige Richtung. Es ist nur heute,
sieben Jahre danach, den meisten Schulen nicht bekannt, geschweige denn umgesetzt,
obwohl es den Schulen viel pädagogische Autonomie ermöglichen würde, von der
Abschaffung der 50-Minuten-Stunde bis zur Auflösung der starren Klassenstrukturen.
Unbestritten spielen Schulleitungen eine entscheidende Rolle für die Qualität einer Schule.
Die Direktorinnen und Direktoren sollen in Zukunft über die Auswahl ihrer Lehrer entscheiden
und völlig ungeeignete kündigen können. Schulen verfügen über ein pädagogisches Budget,
das sie ihren Bedürfnissen entsprechend einsetzen können. Direktoren werden jeweils auf
vier Jahre bestellt und an der Erfüllung der Bildungsstandards für ihre Schule gemessen.
Das wird nur möglich, wenn die nächste Regierung sich dazu bekennt, den politischen
Parteien ihren Einfluss bei der Bestellung von Schuldirektoren zu entziehen und Parteipolitik,
auch über den Umweg der Lehrergewerkschaft, aus den Schulen zu verbannen.
Die Fakten, die den kontinuierlichen Abstieg unseres Schulsystems dokumentieren, sind
bekannt. Sie lassen sich weder schönreden noch ignorieren. Die drei Weichenstellungen
standen übrigens schon in mehreren Regierungserklärungen, ohne je auch nur ansatzweise
realisiert zu werden. Wir haben kein Konzeptdefizit, sondern ein massives
Umsetzungsdefizit. Gibt es noch Hoffnung? Die Antwort gibt Victor Hugo: „Die Zukunft hat
viele Namen: Für Schwache ist sie das Unerreichbare, für die Furchtsamen das Unbekannte,
für die Mutigen die Chance.“


1 Die Vorschläge basieren auch auf den Konzepten, die die überparteiliche Initiative mehrgrips.at
erarbeitet hat, der Andreas Salcher angehört.